Ein Fall der wegen der Schwere der Tat notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt in der Regel bereits dann vor, wenn der Angeklagte in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten ohne Bewährung verurteilt worden ist, nur er Berufung eingelegt hat und für den Fall seiner rechtskräftigen Verurteilung mit dem Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von acht Monaten rechnen muss, die insgesamt drohende Freiheitsstrafe somit ein Jahr beträgt.
Das Fehlen der Mitwirkung eines Verteidigers in der Berufungshauptverhandlung begründet den absoluten Revisionsgrund aus § 338 Nr. 5 StPO, da ein Fall der gemäß § 140 Abs. 2 StPO notwendigen Verteidigung gegeben ist.
Die Gründe für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO lagen (spätestens) bereits in der Berufungshauptverhandlung vor. Allerdings kann der Beiordnungsgrund nicht unmittelbar in der Schwere der verfahrensgegenständlichen Tat erblickt werden. Der Angeklagte ist wegen vorsätzlicher Körperverletzung (lediglich) zu vier Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Es ist aber anerkannt, dass neben der Rechtsfolge für die verfahrensgegenständliche Tat auch sonstige schwerwiegende unmittelbare oder mittelbare Nachteile zu berücksichtigen sind, die der Angeklagte infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat1. Hierzu gehört insbesondere auch ein drohender Bewährungswiderruf2. So liegt es hier.
Infolge der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten wegen der verfahrensgegenständlichen Tat muss der Angeklagte mit dem Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Fürth vom 02.06.2008 rechnen. Die ihm somit insgesamt drohende Strafvollstreckung von einem Jahr kennzeichnet die verfahrensgegenständliche Tat als schwer.
Die Grenze zur schweren Tat wird mittlerweile einhellig bei um einem Jahr Freiheitsstrafe gezogen, wobei die überwiegende Rechtsprechung der Oberlandesgerichte die Mitwirkung eines Verteidigers in der Regel als notwendig ansieht, wenn Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber ohne Strafaussetzung zur Bewährung droht3.
Nach der Rechtsprechung einiger Oberlandesgerichte soll dies selbst dann gelten, wenn die Vollstreckung der zu erwartenden Freiheitsstrafe von einem Jahr zur Bewährung ausgesetzt wird4.
Demgegenüber sah das OLG Düsseldorf5 in einem Fall, in dem exakt ein Jahr Freiheitsstrafe drohte, die Grenze zur schweren Tat aufgrund der Umstände des Einzelfalles (die Dauer der Hauptverhandlung betrug eine Stunde; der Angeklagte hatte ausführliche Angaben zur Tat und zu seinen Beweggründen gemacht; die Zusammenfassung des Tatgeschehens bedurfte in den Urteilsgründen des Amtsgerichts lediglich vier Zeilen) noch nicht als erreicht an.
Einigkeit besteht darin, dass es sich bei der Straferwartung von einem Jahr nicht um eine starre Grenze handelt6. Demgemäß kann unter besonderen Umständen auch schon bei einer Straferwartung von weniger als einem Jahr die Mitwirkung eines Verteidigers geboten sein7. So hat das OLG Koblenz8 bereits bei sieben Monaten Freiheitsstrafe einen Fall der notwendigen Verteidigung bejaht (vier Monate und drohender Widerruf drei Monate), während andere Oberlandesgerichte acht Monate wegen deutlicher Unterschreitung der Jahresgrenze9, neun10 oder zehn Monate Freiheitsstrafe11 nicht ausreichen ließen, um einen Fall der notwendigen Verteidigung anzunehmen.
Auf der anderen Seite ist bei einer Straferwartung von eineinhalb Jahren oder mehr jedenfalls ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben12.
Den meisten Entscheidungen, die vom Grundsatz einer notwendigen Verteidigung bei Freiheitsstrafen von einem Jahr oder darüber ausgehen, lagen allerdings konkret zu erwartende Freiheitsstrafen von über einem Jahr oder sonstige hinzukommenden Nachteile zugrunde13.
Der Rechtsprechung folgend wird in der Kommentarliteratur überwiegend die Ansicht vertreten, dass eine Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass gebe, die Mitwirkung eines Verteidigers als notwendig anzusehen14. Ob ein Verteidiger zu bestellen ist, hängt im Übrigen von der Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten, seiner Persönlichkeit und den Umständen des Einzelfalles ab15.
Der Senat ist im Einklang hiermit bereits in seinen Beschlüssen vom 30.05.200516, 12.10.200517 und 22.02.200618 davon ausgegangen, auch wenn der Angeklagte mit einem Bewährungswiderruf zu rechnen habe, sei eine Verteidigerbestellung nicht regelmäßig, sondern nur dann geboten, wenn die Summe der zur Bewährung ausgesetzten und der neu zu erwartenden Strafe die Grenze von einem Jahr erreicht oder darüber liegt19. In den Beschlüssen vom 12.10.2005 und vom 22.02.2006 lag kein Fall notwendiger Verteidigung vor, da die Jahresgrenze nicht erreicht war. In dem der Entscheidung vom 30.05.2005 zugrunde liegenden Fall war zwar für die gegenständliche Tat nur eine kurze Freiheitsstrafe (§ 47 StGB) zu erwarten. Der Angeklagte hatte aber mit dem Widerruf der Strafaussetzung von Freiheitsstrafen in Höhe von insgesamt 16 Monaten zu rechnen, was zur Bejahung der Notwendigkeit der Verteidigung führte. Zum selben Ergebnis gelangte der Senat in weiteren Entscheidungen: Dem Senatsbeschluss vom 30.11.201120 lagen eine Freiheitsstrafe von fünf Monaten und der drohende Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von acht Monaten – insgesamt somit eine Straferwartung von 13 Monaten – zugrunde. Beim Beschluss vom 11.11.201321 bezog sich die Straferwartung vor dem Berufungsgericht auf ein Jahr Freiheitsstrafe. Hinzu kam aber, dass der Angeklagte mit dem Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr neun Monaten zu rechnen hatte.
Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg geht im Beschluss vom 17.12.200922 im Grundsatz ebenfalls von der bei mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung liegenden Grenze aus und bejahte demgemäß eine notwendige Verteidigung in einem Fall, in dem der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde und mit dem Widerruf einer ausgesetzten Freiheitsstrafe von einem Jahr sechs Monaten rechnen musste. Der eine notwendige Verteidigung bejahenden Entscheidung des damals einzigen Strafsenats des OLG Nürnberg vom 14.01.198723 lag eine erstinstanzliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr zwei Monaten zugrunde. Ausgehend von der bisherigen mit der überwiegenden Ansicht der Oberlandesgerichte in Einklang stehenden Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Nürnberg, wonach grundsätzlich bei einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist, bejaht der Senat dies auch im vorliegenden Verfahren. Besondere Umstände, die trotz Erreichens der Grenze von einem Jahr Freiheitsstrafe eine Verteidigung entbehrlich machen könnten24, liegen nicht vor.
Insgesamt gesehen handelt es sich somit um ein Verfahren, in dem die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage für sich allein nicht die Mitwirkung eines Verteidigers erfordern würde. Gleichwohl ist es aber nicht derart einfach gelagert, dass das Merkmal der Schwere der Tat trotz der zu erwartenden einjährigen Freiheitsstrafe ausnahmsweise nicht gegeben wäre.
OLG Nürnberg, Beschluss v. 16.01.2014 – 2 OLG 8 Ss 259/13, 8 Ss 259/13
- vgl. Meyer-Goßner, a. a. O. § 140 Rdn. 25 m. w. N.
- vgl. nur BayObLG NJW 1995, 2738 Rdn. 4 nach juris; OLG Brandenburg NJW 2005, 521; OLG Celle Beschluss vom 30.05.2012 – 32 Ss 52/12 Rdn. 10 nach juris; OLG Düsseldorf StraFo 1998, 341 Rdn. 6 nach juris; KK-StPO/Laufhütte, 7. Aufl., § 140 Rdn. 21 m. w. N.
- BayObLG NJW 1995, 2738 Rdn. 4 nach juris; KG StraFo 2013, 425 Rdn. 6 nach juris; NStZ-RR 2013, 116 Rdn. 4 nach juris; OLG Brandenburg NJW 2005, 521, sowie Beschlüsse vom 09.01.2006 – 1 Ss 109/05, Rdn. 10 nach juris; vom 24.01.2011 – (1) 53 Ss 187/10, Rdn. 8 nach juris, und vom 07.11.2007 – 1 Ss 90/07, Rdn. 5 nach juris; OLG Hamm StV 2002, 237 Rdn. 6 nach juris; StV 2004, 586 Rdn. 5 nach juris, sowie Beschluss vom 15.04.2008 – 4 Ss 127/08, Rdn. 10 nach juris; OLG Köln StraFo 2003, 420 Rdn. 7 nach juris; OLG Naumburg StV 2013, 433 Rdn. 9 nach juris; OLG Jena StraFo 2005, 200, Rdn. 5 nach juris, sowie Beschluss vom 22.04.2009 – 1 Ws 148/09, Rdn. 13 nach juris; KMR-StPO/Haizmann §140 Rdn. 27; wohl auch OLG Celle Beschluss vom 30.05.2012 – 32 Ss 52/12, Rdn. 11 nach juris; OLG Koblenz StraFo 2006, 285 Rdn. 8 nach juris; so auch – ohne abschließende Entscheidung – OLG Karlsruhe NStZ 1991, 505 Rdn. 9 nach juris
- so etwa OLG Frankfurt StraFo 2000, 344 Rdn. 2 nach juris; OLG Hamm – 2. Strafsenat – NStZ-RR 2001, 373 Rdn. 9 nach juris; OLG Saarbrücken Beschluss vom 24.04.2007 – Ss 25/2007 (28/07), Rdn. 8 nach juris; so auch KK-StPO/Laufhütte, 7. Aufl., § 140 Rdn. 21; s. a. OLG Braunschweig StV 1996, 6: bei zur Bewährung ausgesetzter Freiheitsstrafe von über einem Jahr; anderer Ansicht OLG Hamm Beschluss vom 12.02.2008 – 3 Ss 541/07, Rdn. 18 nach juris, und OLG München NJW 2006, 789 Rdn. 13 nach juris
- NJW-RR 2001, 52 Rdn. 4 nach juris
- vgl. nur OLG Celle Beschluss vom 30.05.2012 – 32 Ss 52/12, Rdn. 10 nach juris; OLG Düsseldorf StraFo 1998, 341 Rdn. 5 nach juris; NStZ-RR 2001, 52 Rdn. 4 nach juris; OLG Hamm Beschluss vom 12.02.2008 – 3 Ss 541/07, Rdn. 18 nach juris; OLG Köln StraFo 2003, 420 Rdn. 8 nach juris; OLG Naumburg StV 2013, 433 Rdn. 9 nach juris; Meyer-Goßner, a. a. O.. §140 Rdn. 23 m. w. N.
- OLG Köln StraFo 2003, 420 Rdn. 8 nach juris
- StraFo 2006, 285 Rdn. 8 und 9
- KG NStZ-RR 2013, 116 Rdn. 4 nach juris
- OLG Oldenburg NdsRpfl 2005, 255 Rdn. 4 nach juris
- OLG Dresden NStZ-RR 2005, 318 Rdn. 10 nach juris
- BayObLG NStZ 1990, 142 Rdn. 5 nach juris; OLG Hamburg, Beschluss vom 23.06.2008 – 2 – 39/08 (REV) – 1 Ss 107/08, Rdn. 9 nach juris
- vgl. BayObLG NJW 1995, 2738 Rdn. 4 nach juris: acht Monate und drohender Bewährungswiderruf von sieben Monaten; BayObLG StV 1993, 180: ein Jahr Freiheitsstrafe und aufgrund der Verurteilung drohende Ausweisung; OLG Brandenburg, Beschluss vom 24.01.2011 – (1) 53 Ss 187/10, Rdn. 1 und 10 nach juris: sieben Monate und drohender Bewährungswiderruf von elf Monaten; OLG Brandenburg, Beschluss vom 07.11.2007 – 1 Ss 90/07, Rdn. 5 nach juris: drei Monate und drohender Bewährungswiderruf von einem Jahr zehn Monaten; OLG Celle Beschluss vom 30.05.2012 – 32 Ss 52/12, Rdn. 11 nach juris: insgesamt 29 Monate Freiheitsstrafe; OLG Düsseldorf StraFo 1998, 341 Rdn. 6: zwölf Monate und drohender Bewährungswiderruf mehrerer Restfreiheitsstrafen; OLG Hamburg, Beschluss vom 23.06.2008 – 2 – 39/08 (REV) – 1 Ss 107/08, Rdn. 9 nach juris: drohender Bewährungswiderruf einer Freiheitsstrafe von einem Jahr acht Monaten; OLG Jena StraFo 2005, 200, Rdn. 7 nach juris: zu erwartende Freiheitsstrafe von einem Jahr elf Monaten; OLG Hamm StV 2002, 237 Rdn. 6 nach juris: sechs Monate und drohender Bewährungswiderruf von 18 Monaten; OLG München NJW 2006, 789 Rdn. 13 und 15 nach juris: ein Jahr Freiheitsstrafe zur Bewährung und Anschluss des anwaltlich vertretenen Nebenklägers; OLG Saarbrücken Beschluss vom 24.04.2007 – Ss 25/2007 (28/07), Rdn. 1 und 8 ff. nach juris: sechs Monate und drohender Bewährungswiderruf von acht Monaten; weitere zahlreiche Beispiele aus der Rechtsprechung bei LR-StPO/Lüderssen/Jahn, 26. Aufl., § 140 Rdn. 55 ff.
- vgl. KK-StPO/Laufhütte, 7. Aufl., § 140 Rdn. 21; Meyer-Goßner a. a. O. § 140 Rdn. 23; s. a. KMR-StPO/Haizmann § 140 Rdn. 26 f.
- vgl. etwa OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 52 Rdn. 4 nach juris
- 2 St OLG Ss 57/05
- 2 St OLG Ss 211/05
- 2 St OLG Ss 14/06
- jeweils unter Hinweis auf BayObLGSt 1995, 56 = NJW 1995, 2738; KG NStZ-RR 2002, 242; OLG Hamm StV 2002, 237; OLG Köln StV 1993, 402
- 2 St OLG Ss 255/11
- 2 OLG 8 Ss 179/13
- 1 St OLG Ss 227/09
- StV 1987, 191, 192
- vgl. hierzu NJW-RR 2001, 52 Rdn. 4 f. nach juris
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